Dienstag, 21. Juni 2016

Kommentar zum Thema Vergangenheitsaufarbeitung

Buchprojekt zur Aufarbeitung der Geschichte der Deutschen Kolonialschule Witzenhausen ist beendet. Und nun?

„Endlich!“ möchte man ausrufen, wenn einem das wirklich eindrucksvolle Werk der Kunst-, Geschichts- und Agrarwissenschaftsstudenten der Uni Kassel „RAUS REIN“ in die Hände fällt. Klar, die Geschichte der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen ist bekannt, dokumentiert und publiziert. Der Versuch der Aufarbeitung, wie sie hier vorgenommen wurde, war allerdings in vielerlei Hinsicht längst überfällig. Und sie ist, obwohl oder vielleicht sogar weil das anvisierte Ziel nicht erreicht wurde, sehr gelungen, weil ernsthaft aber unverkrampft, kritisch aber ohne Moralisiererei, offen und emphatisch.

Wie geht es nun weiter, RAUS REIN für Witzenhausen der Anfang vom Ende?

Aber es ist nur ein Anfang. Und so sehr sich der Geschäftsführer des Deutschen Instituts für tropische und subtropische Landwirtschaft (DITSL), des Nachfolgeinstituts der Kolonialschule, in seinem Interview durchaus glaubwürdig auch von den Ergebnissen und der Art des Projektes beeindruckt zeigt, die Auseinandersetzung und die angemessene Präsentation der Ergebnisse sollte nun auch von Institutsseite aktiv vorangetrieben werden. Klar, die Archive des DITSL stehen interessierten Nutzern zur Verfügung. Und es gibt sogar mit „Koloniale Kontinuitäten? Transformation der Aus- und Weiterbildung in der Tropenlandwirtschaft in Deutschland zwischen 1898 und 1980“ ein Forschungsprojekt des Sozialwissenschaftlers und Historikers Dr. Karsten Linne, bei dem „vornehmlich anhand der Schülerakten der ehemaligen Deutschen Kolonialschule Witzenhausen der Frage nach Herkunft, Ausbildung und Verbleib der Schüler nachgegangen werden“ soll (Homepage DITSL). Aber der Niederschlag und die Sichtbarkeit der Auseinandersetzung auch mit der unbequemen Vergangenheit in Witzenhausen selbst, erscheint doch sehr rudimentär. Und nach dem HNA-Bericht zum Buch und seiner Präsenz im Schaufenster des Witzenhäuser Buchhändlers steht zu erwarten, dass der Anfang auch gleichzeitig das Ende ist.

Aufarbeitung großzügig delegiert

Denn bereits lange vor dem RAUS REIN-Projekt standen im DITSL das besagte Archiv zur Recherche und mit dem sogenannten Völkerkundlichen Museum auch entsprechende Präsentationsmöglichkeiten zur Verfügung. Und während von der Stadt das Völkerkundemuseum trotz seiner Öffnungszeiten (April bis Oktober, Mittwoch von 15.00 bis 17.00 Uhr, Sonntag von 15.00 bis 17.00 Uhr) allen Ernstes als Touristenattraktion verkauft wird, bewerten die Herausgeber von REIN RAUS, Hendrik Dorgathen und Marion Hulverscheidt, die ethnographische Sammlung mit dem offiziellen Leitthema „die menschliche Gesellschaft in Bezug zur natürlichen Umwelt“ ein wenig realistischer: „Lokal, in Witzenhausen scheint uns eine Neuausrichtung des Völkerkundlichen Museums dringend geboten. In seiner jetzigen Form ist es eher ein Panoptikum.“ (im Sinne von Raritäten- oder Kuriositätenkabinett)
Und das, obwohl bereits seit Anfang 2005 mit der Ausstellung in Raum 5 „Die Welt in Witzenhausen - Witzenhausen in der Welt" nach dem Selbstverständnis des DITSL ein Beitrag zur Aufarbeitung der umstrittenen Kolonialvergangenheit Witzenhausens geleistet worden ist. Tatsächlich findet der Besucher in dieser „Aufarbeitung“ von dem, was in REIN RAUS thematisiert wird, kaum etwas.

Vielleicht auch mal etwas anderes als Umzüge, Feste oder Werbeveranstaltungen für die Wirtschaft sponsern?

Vordergründig sind es immer wieder die knappen finanziellen Mittel, die in der Stadt Witzenhausen (und auch anderswo in der Region) verhindern, auch kulturell Wichtiges und Nachhaltiges umzusetzen. Auch das Forschungsprojekt Linnes wird nicht etwa vom DITSL oder der Stadt Witzenhausen finanziell unterstützt, sondern von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur finanziert. Dennoch, so knapp kann das für Witzenhäuser Heimatgefühle mobilisierbare Geld nun auch wieder nicht sein. Man denke da nur an die privat finanzierte und an prominenter Stelle zur Schau gestellte Skulptur Ludwig Erhards. Der hatte hier mal einen Wahlkampfauftritt, sich damit einen Platz in der aufregenden Witzenhäuser Geschichte gesichert und das Werrastädtchen zur tourismusmagnetischen Weltstadt gemacht. Weitere so eng mit der Stadt verbundene Persönlichkeiten der Weltgeschichte sollen folgen

Größenwahn oder politisches Kalkül?

Wie wäre es mal nach einem Sponsor für eine Skulptur des Franz Seelemann zu suchen oder Workshops zur Geschichte der Kolonialschule (mit Archivnutzung) an der Volkshochschule zu organisieren, Schulklassenprojekte zu initiieren oder die Verfasser von REIN RAUS zu multimedialen Vorträgen nach Witzenhausen einzuladen oder den Raum 5 des Museums gestalten zu lassen (und gegebenenfalls hierfür auch die Kosten zu übernehmen). Nicht zu vergessen die öffentliche Diskussion um die Büste des Gründungsdirektors. Nachdem sich Witzenhausen in seiner Selbstsicht mit der Ludwig Erhard Skulptur nun zum politischen Nabel der Welt, mit seinen ökologischen Projekten zur Bio-Hauptstadt Deutschlands oder mit den geplanten Fahrradschließautomaten an der Werrabrücke zur Bikemetropole aufgeschwungen hat, wäre vielleicht auch mal eine nachhaltige Bildungs- und Kulturoffensive drin. Vielleicht relativiert sich dann ja vor dem realen geschichtlichen Hintergrund des Örtchens die von außen betrachtet gelegentlich etwas merkwürdig anmutende Selbstwahrnehmung.

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